© Neue Zürcher Zeitung; 17.12.2005; Nummer 295; Seite 52
Zürcher Kultur

Schnodderschnudderspass: Alfred Wälchlis Sprachmusik
Sprache als Notenmaterial - das ist die Musik, nach der die Formation Matterhorn der Regisseurin Ursina Greuel spielt. Derzeit ist in der Roten Fabrik ihre «Versuchung, die Romanza der Eluvies von Alfred Wälchli zu spielen» zu hören. Ein Mundmeisterwerk.«Auf der Alm da gibt's kei' Sünd», einen Sündenpfuhl aber durchaus - und den hat der im letzten Jahr verstorbene Zofinger Schriftsteller und Komponist Alfred Wälchli gebaut. In seiner «Romanza der Eluvies», die am Donnerstag in der Roten Fabrik aufgeführt wurde, lodern die Leidenschaften, brennt der Berg, geht es hoch her in dem Hotel, das Wälchli sich ins Dörfli phantasiert hat. Man erwartet dort königlichen Besuch für rituelle Bäumchen-wechsel-dich-Kopulationen, aber bis jetzt hagelte es nur Absagen. Einzig eine Journalistin hat es in das (Liebes-)Nest verschlagen, und diese wollen sie nun wirklich nicht hineinlassen, weder die Hotelchefin mit dem vielsagenden Namen Lues noch das Stubenmädchen mit dem nicht minder sprechenden Namen Chimäre (ihre mythischen Geschwister Cerberus und Sphinx werden ebenfalls vorkommen): Stoff für ein selbstreflexives Dramolett rund um Lust und Launigkeiten, um Standesdünkel und Stehvermögen. Vor allem aber Stoff für ein Feuerwerk aus fauchendem «Ichchchch», knatterndem «Chlupf», zischendem «Schnodderschnuder».
Der 1922 geborene Zofinger Jandl mit homerischem Faible hat so lange an Vokalen und Konsonanten herumgefingert, bis aus den Wörtern Semantiksalat und Sprachmusik entstand. Und das ist genau nach dem Geschmack der jungen Regisseurin Ursina Greuel: Unter dem Namen «Matterhorn Produktionen» spielt sie, zusammen mit dem Autor Guy Krneta und einer Formation experimentierfreudiger Mimen und Musiker, seit rund vier Jahren mit den Melodien, die von den Buchstaben geschrieben werden. Man begann mit der fugisch strengen Etüde «Das Matterhorn ist schön» (2001), bezauberte mit einem Konzert ohne Instrumente, «Zmittst im Gjätt uss» (2003), und berauschte sich an der Mundart-Rhapsodie «Das Leben ist viel zu kurz, um offene Weine zu trinken» (2004).
Mit Alfred Wälchlis Text, den «Matterhorn Produktionen» Ende November in Aarau erstmals aufgeführt haben, sind sie nun noch einen Schritt weiter gegangen - hinein ins offene Silbengesumme. Ein Mundmeisterwerk des Ensembles, das ihr, zum Glück, erlegen ist, der «Versuchung, die Romanza der Eluvies von Alfred Wälchli zu spielen»: Stina Durrer, Sabina Frey, Franziska von Fischer, Thomas U. Hostettler, Kristian Krone, Markus Mathis und Oliver Meier verschlucken Endungen und spucken Zischlaute, singen, surren und schnurren in schönster Wälchlischer Manier. Das Wunderbare dabei ist, dass so aus den Unlesbarkeiten Lustbarkeiten werden, eine halbverständliche Vollblutgeschichte.
Unterstützt wird diese durch den Bilderfluss, den der Videojockey Michael Spahr auf das Bühnenbild - eine Treppe, eine Wand, eine Tür (Catharina Strebel) - projiziert. Ein gelber Schweizer Postbus fährt in Serpentinen durch grau-grüne Landschaft; das ockerfarbene «Hotel zum Grossen Hunger & Durst» schwankt wie das House of Usher; eine ägyptische Sphinx klappt unkend ihr Maul auf und zu. Kurz: Das Auge wird gestreichelt, wo das Ohr mit unverständlichen Lauten ringt. Ohne diese Streicheleinheiten wäre Wälchlis Werk auch, bei allem raffiniert-reichen Klänge- Kasperle, zu arm für eine Bühne. Selbst mit ihnen reicht es nicht ganz, um in der Roten Fabrik anderthalb Stunden lang die Spannung zu halten. Insgesamt aber darf man, frei nach Wälchli, frohlocken: Mit den Matterhörnern frühlt und lercht es im winterlichen Zürich.

Alexandra Kedves