© Basellandschaftliche Zeitung / MLZ; 12.05.2012; Seite 35
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Die Schönheit der Denk-Kunst
Kaserne Das Stück «Die Mannigfalte. Ein algebraisches Varieté» befasst sich mit Mathematik und Musik.

Verena Stössinger

«Der Mathematik ist es egal, was die von ihr denken, die nichts von ihr verstehen.» Dieser Satz steht am Ende der Basler Premiere der «Mannigfalte». Das Ensemble von «Matterhorn Produktionen» versucht darin, Fremdheit und Schönheit dieser Kunst zu zeigen – denn eine Wissenschaft ist die Mathematik ja streng genommen nicht, da sie sich rein auf Gedanken aufbaut und daraus immer weiter ableitet. Sie konstruiert Gesetzmässigkeiten, die unabhängig von konkreten Beispielen funktionieren. Eine Denk-Kunst.

Mathematik ist für uns jedoch erst einmal keine Kunst, sondern ein Schulfach, und zwar nicht das beliebteste. Was sie uns jedoch beizubringen versucht: genau zu denken und uns dabei nicht zu überschätzen. Aber auch nicht zu unterschätzen – denn manches in diesem Denkgebäude ist durchaus verständlich und vor allem ist es faszinierend. Eine Welt, die aus Ziffern, Gleichungen und Aussagen besteht.

Schöne Mathematik

Die sechs Darsteller auf der Reithallenbühne (Lou Bihler, Franziska von Fischer, Newa Grawit, Simone Keller, Krishan Krone und Oliver Meier) gehen dabei unter Regie von Ursina Greuel – einer bekennenden Mathematik-Liebhaberin – zunächst von eigenen Schulerinnerungen aus, lassen sich dann aber ein auf die Struktur und die abstrakte Schönheit mathematischen Denkens.

Ein mutiger Griff. Man will das theoretische Gedankengebäude nicht bloss referieren, sondern es szenisch umsetzen.

Immer die Zahl zwei

Die Euler-Charakteristik beschreibt schon 1758 die Gesetzmässigkeit, dass bei jedem regelmässigen Raumkörper die Anzahl der Kanten plus die Anzahl der Flächen minus die Anzahl der Ecken jeweils die Zahl zwei ergibt. Auf der Bühne wird mit diesem Gesetz gespielt: Fünf junge Komponisten wurden angefragt, dazu eine Komposition zu verfassen, und wir hören die Stücke, gespielt auf der Bühne, und so fremd sie klingen, so fremd dürfen sie auch sein.

Die Musik ist eine aktive Akteurin im szenischen Raum, der selber auch mitspielt. Wandtafeln, auf denen Schrift festzuhalten, übereinander- zulegen und wieder zu grauen Wolken zu löschen ist, hängen vom Bühnenhimmel und lassen sich bis auf den Boden herunter ziehen; darauf überlagern sich Zeichen und Gedankengänge.

Der Abend ist Konzert und «lecture performance», ein unterhaltsames Varieté, und die Darsteller werden von ignoranten Schülern zu klugen Interpreten. Aus dem Off kommt die Stimme eines mathematischen Profis, die ebenso viel erklärt wie relativiert. Vielleicht sind ja alle, denkt man, die auf und über der Bühne stehen, genauso unfest wie die Zeichen von Ziffern und haben keine eindeutige Charakteristik? So, wie die Zwei auch Teil eines Fragezeichens sein kann?

Was besticht an dem eigenständigen, kurzweiligen Abend ist die Sicherheit des Zugriffs und die Musikalität der Darbietung. Auch ihrer sprachlichen Elemente, bis hin zum Kakofonie-Chor; und das macht auch letztlich Kraft und Qualität aller Arbeiten von «Matterhorn Produktionen» aus, seien sie so unterschiedlich wie «Ursle» und «Die Mannigfalte».

«Ursle»: Schweres Thema für Kinder

Eigentlich hat sie gar nicht richtig Platz in der Familie, die sechsjährige Ursle. Immer ist da nämlich noch ihr toter Bruder. Er konnte alles besser und war braver, dagegen kann sie nichts tun. Kein leichtes Thema für ein Kinderstück; E-Kunst sozusagen. Das stört Guy Krneta, den Basler Autor, nicht. Er setzt noch eins drauf. Nach über 20 Jahren (so alt ist die «Ursle» schon) ist das Stück nun von Till Löffler vertont worden, und die 13 Musikerinnen und Musiker vom «Ensemble Kreis 13», ein kleines klassisches Orchester mit Streichern, Bläsern, Flügel und Schlagwerk, haben «Ursle – eine musikalische Geschichte» am Mittwoch im Vorstadttheater uraufgeführt.

Neue E-Musik. Für Kinder? Die Musikerinnen und Musiker im Kleinen Schwarzen? Till Löffler, selbst auch Dirigent, zieht den Frack zwar aus, aber das seriöse Setting bleibt. Da hat die «Ursle»-Spielerin Franziska von Fischer doch fast keinen Platz mehr auf der Bühne. Wie sie sich ihn mit der Zeit aber schafft, und wie dabei Musik und Text aufeinander verweisen und eingebettet sind in einen Raum, der das, was sie uns erzählen, freundlich umsetzt, ist das Verdienst von Ursina Greuel, der Regisseurin. A-Kunst für Kinder (und Erwachsene)! (ves)